Dein Hals ist wie ein elfenbeinerner Turm
Peter von Matt, Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur, 2023, 240 Seiten.
Das Buch versammelt 13 Texte, die Matt als Ansprachen oder Essays zwischen 2007 und 2017 veröffentlicht hat.
Kenntnisreich stellt der Autor bekannte Texte unter einem neuen Blickwinkel vor und gewinnt ihnen auf diese Art und Weise neue, oftmals überraschende Einsichten ab. Er stellt Querverbindungen her und zeigt große Linien auf. Dies gilt etwa für literarische Texte, die um die Zeit der Französischen Revolution herum entstanden sind, und aufklärerisches Gedankengut explizit oder zumindest implizit verarbeiten.
Hochinteressant ist beispielsweise ist der Essay über die Wirkung Shakespeares in Deutschland, in dem Matt der kulturellen Selbstfindung einer verspäteten Nation nachspürt. (S. 161-179)
"Ohne Shakespeare gibt es im deutschsprachigen Kulturraum offensichtlich kein Theater. Ohne Racine und Corneille aber schon und auch ohne Calderon und Lope de Vega, obwohl diese vier zu den Obelisken des Welttheaters gehören.“ (S. 161)
Woher kommt diese bis heute andauernde Bedeutung des englischen Dramatikers und seine nachwirkende Wertschätzung? Matt weist darauf hin, daß noch im 18. Jahrhundert die deutsche Literatur und Bildungssprache hinter anderen europäischen Sprachen zurück lag, sich aber zwischen 1770 und 1810 ästhetisch in den gleichen Rang mit anerkannten Dichtungen und Literaturen aus Frankreich, England, Spanien und Italien erhob. ihren Ausgang nahm diese Entwicklung nach Matt bei Lessing, der aktiv gegen die literarische Vorherrschaft des Französischen ankämpfte und Shakespeare zum Maßstab der Literatur schlechthin, zu einem übernationalen Ereignis charakterisierte. Lessing stellte Shakespeare als ersten modernen Autor in eine Reihe mit klassischen griechischen Autoren, nennt ihn Genie und setzt damit eine Entwicklung in Gang, die kurz darauf von Herder und Goethe aufgegriffen und sich in „Sturm-und Drang-Prosa der ersten Stunde“ (S. 166) Bahn brach.
Matt zeigt auf, wie die Sprachgewalt des englischen Dichters „die Spannweite und Vieltönigkeit der deutschen Sprache“ (S. 167) beflügelte und Ausdrucks- und Differenzierungsmöglichkeiten schuf, die dann die berühmte Schlegel-Tieck-Übersetzung ermöglichte. Den Sprung, die Entwicklung, die zwischen Wielands Prosaübersetzung und der Schlegel-Tieck-Nachdichtung liegen, faszinieren Matt. Neben der sprachlichen Entwicklung diagnostiziert Matt die Wirkung der Hamletfigur auf die deutschen Dramendichter, die sich in ihr wie in einem Spiegel erkannten. Ihre Figuren, die nach seinem Vorbild geformt sind, beklagen die eingeschränkte politische Handlungsfähigkeit der Autoren, die in der Wirklichkeit der Reaktion und Restauration hart gelandet waren.
Dieser 2014 entstandene Essay über Shakespeare ist so knapp wie gehaltvoll, voller Anregungen und luzider Querverbindungen.
Der titelgebende Essay beruht auf einem Festvortrag, der 2008 aus Anlaß des 175. Bestehens der Universität Zürich gehalten wurde. Er handelt, so der Untertitel, vom Umgang der öffentlichen Phantasie mit den Wissenschaften und vom unvergessenen Verrat am Mythos.
„Die Figur des Wissenschaftlers in der Literatur und den Künsten ist die dramatische Zuspitzung einer öffentlich zirkulierenden Stereotype.“ (S. 20)
Matt geht der Frage nach, warum der Wissenschaftler die Menschen schon durch seine bloße Existenz provoziert und die Darstellung als - zumindest - Sonderling nach sich zieht. Und damit sind wir in einem literarisch anspruchsvollen und politisch relevanten Thema - man denke nur an die Rolle der Wissenschaft während der Pandemiejahre 2022 ff. und die gegenwärtige Schmährede vom Elfenbeinturm (die sich allerdings primär auf Politiker bezieht).
Matt zitiert aus dem Hohelied: „Dein Hals ist wie ein elfenbeinerner Turm.“ (S. 21) und spürt Bedeutung und Gebrauch der Metapher nach. Ausführungen über Weltfremdheit und Lebensklugheit, über Konsequenzen von Diffamierung sind bei aller Leichtfüßigkeit bedeutungsvoll.
Faust und Wagner, beider Verhältnis zueinander und dessen Umkehrung vom ersten zum zweiten Teil der Tragödie wird von Matt als zeitgenössisches Zeugnis der sich während der jahrzehntelangen Entstehungszeit von Goethes Werk vollziehenden Entwicklung der modernen Naturwissenschaften gelesen. Dies geschieht prägnant und textsicher mit Zitaten unterlegt. Matt liefert hier - wie im gesamten Buch - stets die Anregung, zu den behandelten Texten zu greifen, wo man dann, solcherart inspiriert und aufmerksam gemacht, nach weiteren Botschaften suchen will.
Es folgen Ausführungen über den wahnsinnigen Wissenschaftler, über den Gegensatz von Mythos und Logos, die dann zurückkehren zu den Wissenschaftlern, den Menschen, die den Gegenstand der von Matt betrachteten literarischen Texte bilden.
Hier wie in den anderen Texten, die unter anderem von der Zauberflöte oder dem Struwwelpeter handeln, die Familiengeheimnissen nachspüren und die Faszination der Dummheit zu ergründen suchen, zeigt sich Matt als belesen, aber auch als unaufdringlich. Jede Besserwisserei vermeidend, weckt er Interesse und Neugier, verführt er zum Weiterlesen, zu Entdeckungen und Wiederentdeckungen. Ein tolles, ein lesenswertes Buch!