Von der Widerständigkeit des Lesens

Amir Hassan Cheheltan, Der Zirkel der Literaturliebhaber, Roman, 2020. dt. 2020 (aus dem Persischen von Jutta Himmelreich), 252 Seiten.

Inhalt

Teheran, an einem Donnerstag, an jedem Donnerstag: Besuch kommt, der Höhepunkt der Woche steht an. Über Jahrzehnte hinweg treffen sich Freunde in der Wohnung der Familie Cheheltan, um mit ihnen über Literatur zu sprechen. Der Autor erzählt von seinen Eltern, ihren Besuchern, von sich und vor allem von Büchern: ihrer Schönheit, ihrer Faszination, ihrer Sprache, ihren Autoren, ihren Schicksalen.

In den Gesprächen treten sich der moderne Iran mit seinen politischen und gesellschaftlichen Brüchen und das traditionsreiche Persien mit seinen vielfältigen und reichen künstlerischen und literarischen Traditionen gegenüber. Immer wieder bricht die Welt vor der Tür in die Gespräche ein, die im festlich geschmückten Gästezimmer bei üppigen Speisen geführt werden, ein. Der Sturz des Schah, die Errichtung der Islamischen Republik sind Zäsuren, gewiß. Doch der Terror durch die Geheimpolizei des Schah wird nur abgelöst durch die Säuberungsaktionen der Mullahs. 1980 bis 1988 liegen Iran und Irak im Krieg miteinander (erster Golfkrieg), schließlich kommt es zur Massenhinrichtung politischer Gefangener im Iran im Jahre 1988. Cheheltan spricht in diesem Zusammenhang von über 4.000 Hingerichteten (S. 170).
Die Literatur erscheint den Menschen, von denen der Autor berichtet, ebenso wie ihm selbst als Zufluchtsort angesichts der Schrecken der Welt.

Damit war ein grundlegender Unterschied zur Lage unter der Vorgängerregierung entstanden. Zu Schahzeiten kam man mittels Bildung voran. Jetzt unterstützten die emporgekommenen Verantwortungsträger an der Spitze des Landes die Emporkömmlinge aus der Wirtschaft. Da die oft keine akademischen Diplome vorweisen konnten, verachteten sie Menschen, die ihnen solche Nachweise voraushatten. Die Verachtung hielt so lange an, bis die Nachkommen derer ohne Diplome solche Zeugnisse erwerben konnten. […] Mühelos war die neue Ordnung nicht errichtet worden. Den iranischen Mittelstand hatte man durch Ermordungen und Unterdrückung vernichtet oder in alle Winde der westlichen Welt zerstreut, um Platz für eine neue Schicht zu schaffen. Bis dahin hatten über drei Millionen dem Mittelstand angehörige Iranerinnen und Iraner das Land verlassen. (S. 237)

Die Bücher

Welche Werke sind es, zu denen die Lesenden greifen, in denen sie Trost suchen und finden, deren Schönheit sie erbaut, deren Offenherzigkeit ihre Sinne erfrischt? Cheheltans Buch ist eine Einführung in, nein eher eine Hinführung zur klassischen persischen Literatur. Mit kurzen Zusammenfassungen und – teilweise ausführlichen – Zitaten verlebendigt der Autor Werke von Saadi, Rumi und Hafis.
Cheheltan zeigt auch, wie ihm im Laufe der Jahre bewußt wurde, daß diese klassische Literatur grundlegende Menschheitsmythen variiert und so einen Indikator für die Verbundenheit der Kulturen darstellt. Er erkannte darüberhinaus, daß sexuelle Themen recht explizit behandelt werden, auch und gerade die männliche Homesexualität. Wobei es hier freilich meist um das geht, was man klassisch Päderastie nennt, das Verlangen erwachsener Männer nach und den Verkehr mit bartlosen Jünglingen. Später wird dies auch deutlich ausgesprochen (S. 207ff.); diesem Aspekt der iranischen Geschlechtlichkeit ist ein ganzes, zitategesättigtes Kapitel gewidmet.

Die Gründe für Rumis unverblümte Wortwahl sind für mich ohne Belang. Für mich ist ausschlaggebend, dass sein Masnavi als eines der bedeutendsten Werke der klassischen persischen Literatur bis heute auf meinem Schreibtisch liegt, dass ich es in verständlichem Persisch lesen kann und keine Erläuterungen brauche. Schon gar nicht, wenn es sich um voreingenommene Erläuterungen von Leuten handelt, die die belehrende Seite der klassischen persischen Literatur herausstellen wollen und dabei völlig verkennen, welch düsteres, einseitiges Gesicht sie ihr geben. Mich interessiert die lockere, humorvolle sehr irdische Seite dieser Dichter. Ich spüre keine Distanz zu ihnen. Weshalb aber hält unsere konservative Gesellschaft diese Seite unserer großen Literaten nach Kräften vor unserer Jugend verborgen? (S. 189)

Fazit

Insgesamt betrachtet Cheheltan seine Lesebiographie und das Gelesene in der Rückschau auch aus der Perspektive der westlichen Literatur. Er berichtet von den über die Zeit gewandelten Zugängen zu Themen und Stil, über seine zunehmend aktivere Rolle im Zirkel: hatte er als Kind nur aus der Feierlichkeit der Vorbereitungen auf die Bedeutung des Ereignisses schließen können, so wurde er bald als Zuhörer zugelassen, um sich später dann auch mit Wortbeiträgen und Einschätzungen zu beteiligen.
Die Überlegungen, die er bei der Niederschrift als Erwachsener zur Bedeutung der Texte anstellt, ziehen vielfältige Verbindungen zu den großen Mythen, den heiligen Schriften der großen Religionen, zur europäischen Literatur. Cheheltan erwägt und vergleicht die Reichweite von Interpretationsansätzen; er plädiert dafür, die Lebendigkeit von Literatur zu erkennen und nicht doktrinären Überzeugungen unterzuordnen. Freud, Spinoza, Derrida und Husserl liefern Argumente und Blickwinkel für die Debatten in der Donnerstagsrunde – eine Atmosphäre, die offen ist für die Idee von Weltliteratur.

1997 endet der Lesezirkel. Mitglieder der Runde gerieten unter Druck, ein Teilnehmer wurde ermordet. Der Vater des Autors erlitt über die schlimmen Nachrichten einen Herzinfarkt und starb 1999. Das Haus der Familie wurde verkauft und abgerissen.

Ja, ich weiß, so war es schon immer. Vieles, was es einst gab, existiert heute nicht mehr. (S. 252)

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Uneindeutigkeit von Lebensstilen

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Das Selfie als ekstatische Geste